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Kalampaka/ GR

 

Heute ist der achte November 2017 und ich sitze im vorderen Teil des Wagens, während ich diese Zeilen tippe. Gerade ist es draußen ruhiger geworden. Der Hirte ist mit seinen Schafen, Ziegen und Hunden hinter dem nächsten Hügel verschwunden. Ab und an drängelt sich die Sonne durch das dichte Wolkenband.

 

In Griechenland wollen wir nun den Winter verbringen. Eine gute Entscheidung, denn während die Daheimgebliebenen bereits mit der Kälte zu tun haben, kann ich hier tagsüber immer noch im T-Shirt in der Sonne sitzen.

 

Manchmal fahren auf der kleinen Straße Reisebusse hoch zu den Meteora-Klöstern. Pauschaltouristen lassen sich vor den Hotels, in denen sie ein reichhaltiges Frühstücksbuffett genossen haben, abholen und vor den Sehenswürdigkeiten abladen. Ein deutschsprachiger Reiseführer erläutert ihnen, was sie vor sich sehen, dann haben sie in einem klar festgelegten Zeitraum die Möglichkeit einige Erinnerungsfotos zu schießen. Mit der Programmautomatik feuern sie drauflos, denn die Zeit rast. Im Hotel wartet bereits das Mittagessen, bevor der nächste Programmhöhepunkt vor ihnen liegt.

 

 

 

Vielleicht steht heute am Nachmittag der Programmpunkt „Land & Leute“ auf ihrem Zettel. Dann karrt man die Reisemeute zu einem Olivenbauern, einem Ziegenhirten oder in eine Tzaziki-Fabrik, wo sie mit eigenen Augen sehen können, wie er so lebt und arbeitet, der Grieche.

 

Aber was sehen sie da? Sicher nicht, wie der Hirte bei strömendem Regen und Kälte draußen steht und sich für einen Hungerlohn oder auch nur für den Eigenbedarf den Hintern abfriert. Denn bei Regen entfällt dieser Punkt auf dem Reiseplan.

 

Sie sehen auch nicht, wie der Bauer die Hälfte seiner Ernte einfach wegschmeißen muss, damit der Überschuss nicht den Handelspreis verdirbt. Weder sollen die Ladenpreise sinken, noch darf er seine Überschüsse an Bedürftige verteilen. Der verschwindend geringe Betrag, den er bekommt, wenn er die Hälfte vernichtet, ist immer noch mehr, als wenn er seine Ernte voll verkauft.

 

 

 

Es soll jeder so reisen, wie es ihm beliebt. Doch ich nehme niemandem ab, dass er aus seiner Hotelburg heraus wirklich Land und Leute kennengelernt hat. Dass er wirklich ein, und wenn auch nur subjektives, Gefühl dafür bekommt, was in dem Land, in dem er sich gerade befindet, abläuft.

 

Wenn der Hotelkoch beim Tzaziki den Knoblauch einfach weglässt, weil die Touristen es so lieber mögen, dann hat der gemeine Nicht-Individual-Tourist nicht mal die Chance, seinem Urlaubsland kulinarisch etwas abzugewinnen.

 

Und nach der Rückkehr heißt es dann: „Naja, es war eigentlich viel zu heiß (Echt? In Griechenland? Im Sommer? Wer hätte das gedacht?!), das Essen war gut (Denn es war „europäisch“, also wie zu Hause, obwohl der Koch ein Bulgare war.) aber das Hotelpersonal konnte nur ganz wenig Deutsch (Ist schon schlimm, dass man in anderen Ländern andere Sprachen spricht. Konnte man vorher nicht wissen.).

 

 

 

Ganz anders lernt man ein Land und seine Leute kennen, wenn man sich Zeit lässt, wenn man sich darauf einlässt und wenn man seine Reise selbst in die Hand nimmt. Wie es kommt, dass so viele Menschen ihren Urlaub so fremdgesteuert verbringen wollen, erschließt sich mir noch nicht. Einen Vorteil sehe ich darin nicht.

 

Ich hätte keine Ahnung, wie Menschen in anderen Ländern so ticken, wenn ich sie nur dort antreffen würde, wo sie sich mir anpassen, weil ich der zahlende Tourist bin.

 

Viele Menschen zahlen aus ihrer Sicht viel Geld (trotz Schnäppchenpreis) dafür, dass sie essen können, was andere auf das Buffett stellen, dass sie sich von anderen sagen lassen, wie ihr Tag aussieht, dass sie stundenlang in engen Fliegern und Bussen schwitzen dürfen und dass ihnen jeder Handschlag abgenommen wird.

 

Und das alles nur, um bei 40 Grad am Pool in der Sonne zu brutzeln, bis einem die Cocktails aus dem All-inclusive-Paket zu Kopf steigen? Wäre das nicht auch an der Ostsee zu haben gewesen, ohne stundenlang am Gepäckband zu stehen, nachdem man aus dem Flieger gestiegen ist, der so viel CO2 in die Luft stößt wie kaum ein anderes Verkehrsmittel?

 

 

 

Lange Vorrede zu ein paar Geschichten aus dem Griechenland, wie wir es bisher kennengelernt haben.

 

In Elassona, auf dem Weg zu den Meteora-Klöstern, stoppen wir zur Mittagszeit, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Im Gegensatz zu den kleinen Bergdörfern auf dem Weg, sind hier die Bürgersteige voller Menschen. Mag daran liegen, dass der Spritpreis hier bei 1,52 Euro pro Liter Benzin liegt, was sich viele kaum leisten können.

 

Warum können die Menschen sich solche Preise nicht mehr leisten? Vielleicht weil die landesweite Arbeitslosenquote (Stand Juni 2017) bei über 21 Prozent liegt. Das heißt, fast jeder vierte ist hier ohne Einkommen. Bei den unter 25-Jährigen ist sogar jeder Zweite ohne Job.

 

Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Arbeitslosenquote bei knapp 6 Prozent und bei jungen Leuten sind es 6,4 Prozent.

 

Nachdem ich in einem griechischen Supermarkt für uns Lebensmittel besorgt habe, schlendere ich kurz durch die Straßen auf der Suche nach einem Gyros-Laden. Es fällt mir auf, dass hier zwar viele Menschen unterwegs sind, doch die meisten Geschäfte sind verwaist. In den noblen Boutiqen wartet man schon wieder auf die nächste Sommersaison und die zahlungskräftigen Urlauber.

 

Auch das ein Grund, warum ich glaube, weniger Pauschal- und mehr Individual-Touristen täten diesem und anderen Urlaubsländern gut. Denn wo landen die 378 Euro für eine Woche Griechenlandurlaub mit All-inclusive-Paket inklusive Flug? (Habe ich bei TUI nachgelesen)

 

Sie landen bei dem Reiseveranstalter, der Airline, dem Hotelbetreiber und einigen anderen, die aber höchstwahrscheinlich alle keine Griechen sind. Viele Hotels haben ausländische Betreiber, die wiederum ausländisches Personal einstellen, weil sie dem nämlich weitaus weniger zahlen müssen, als einem Griechen, der womöglich noch darauf besteht, dass dabei eine Krankenversicherung für ihn herausspringt.

      

 

Natürlich gönne ich dem Bulgaren seinen Saisonjob in einem griechischen Badeort, von dem er zu Hause Frau und Kinder ernährt. Aber ist es fair, dass er für so wenig Kohle mehrere Monate lang von zu Hause wegbleibt? Ist es fair, dass er in seinem Land, welches auch ein Urlaubsland ist, keinen guten Job findet? Ist es fair, dass ein Arbeitgeber in Griechenland billige ausländische Arbeitskräfte in miesen Arbeitsverträgen ausbeutet oder gleich ganz ohne Vertrag und ohne Krankenversicherung? Während tausende Griechen zu Hause sitzen oder wieder bei ihren Eltern einziehen, weil sie sich keine eigene Wohnung mehr leisten können.

      

Ich schlende also durch die Straßen und beobachte die Menschen. So gut es geht, mische ich mich in die Menge und versuche als Fremder so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen.

 

Schließlich entdecke ich einen kleinen Laden, in dem Gyros, Souflaki und andere Leckerein verkauft werden. Der Imbiss ist modern eingerichtet und fällt auf durch eine gewagte Farbgestaltung in Rot und Schwarz.

 

Während ich noch unschlüssig vor dem Geschäft stehe, kommt ein alter Mann an das offene Fenster und winkt mich herein. Ich folge seiner Aufforderung und erlebe nun eine Situation, die mich noch länger beschäftigen wird. Der alte Herr ist offenbar der Besitzer oder zumindest der einzige Angestellte. Sofort hat er erkannt, dass ich nicht aus der Gegend komme und fragt, ob ich Deutscher oder Franzose sei. Ich sage, ich sei Deutscher und höre nun wiederholt sein freundliches „Hallo!“.

 

Er bietet mir Fleischspieße an, doch ich zeige auf den Gyrosstab. Mit geübten Bewegungen setzt der alte Herr sich in Gang und bereitet mir ein Gyros zu. Ich beobachte ihn genau, ich bin der einzige Kunde und mir fällt auch auf, dass dieser Grieche wahrscheinlich schon längst im Rentenalter ist. Ich schätze ihn auf mindestens 75, wenn nicht gar noch älter. Sein lichtes Haar ist weiß, auf Händen und Unterarmen sind deutlich Altersflecken erkennbar. Seine Bewegungen sind geübt aber langsam und seine Hände zittrig.

 

Nur wenige Minuten habe ich in seinem Laden verbracht und nur wenige Worte haben wir gewechselt, doch als ich durch die Tür ins Freie trete, bemerke ich, wie gerührt ich bin. Tief berührt von seiner freundlichen Ausstrahlung, seinem herzlichen Lächeln und seiner Dankbarkeit für mein eher mageres Trinkgeld.

 

Diese Begegnung war unvorbereitet, ungestellt, natürlich. Das ist es, was ich auf Reisen schätze. Dass ich, fast immer, ohne Vermittler in Situationen gelange, die für mich ein Puzzleteil zum eigenen Verständnis dieses Landes werden.

 

Und ich male mir in Gedanken aus, warum dieser Mann da in seinem Laden steht, anstatt sein Rentnerleben zu genießen. Ob er vielleicht einfach arbeiten muss, weil seine Rente nicht zum Leben reicht? Und wie sich die Jugendarbeitslosigkeit jemals verringern soll, wenn selbst Menschen wie er noch arbeiten müssen?

 

Zum Abschied ruft er mir ein „Auf Wiedersehen!“ hinterher. Und ich denke, wie gerne ich wiederkehren würde. Dann aber mit einer gemeinsamen Sprache im Gepäck und mit vielen Fragen.

 

Ein Rentner erhält laut Angaben des griechischen Arbeitsministeriums durchschnittlich etwas mehr als 700 Euro Rente (Brutto!) im Monat. Dies sind die niedrigsten Renten in der gesamten Eurozone. Noch 2009, bevor die EU den Griechen massive Sparmaßnahmen diktierte, lagen die Renten bei durchschnittlich etwas mehr als 1000 Euro. Im Jahr 2019 soll eine weitere Rentenkürzung einsetzen, nach der die Renten dann bei nur noch 620 Euro durchschnittlich liegen werden.

 

Die letzten Zahlen habe ich im Netz recherchiert. Als Pauschaltourist würde ich jetzt vielleicht sogar denken, dass deutsche Rentner auch nicht gerade überversorgt sind.

      

Wer allerdings bedenkt, dass aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, von diesen Rentenzahlungen auch noch die Kinder und Enkelkinder durchgebracht werden müssen, der erkennt, in welchem Teufelskreis die Bevölkerung dieses Landes gefangen gehalten wird.

 

Und das erkennt man leichter, wenn man statt dem Schlagerabend in der Hoteldisco lieber mal die nächstgelegene Taverne unten am Hafen besucht.

      

Eine vorerst letzte Geschichte aus diesem wunderschönen Land mit diesen überaus freundlichen Menschen möchte ich erzählen.

 

Sie handelt von einem, der als studierter Historiker in einer Schule als Hausmeister tätig ist aber auch schon bei der Müllabfuhr gearbeitet hat. Der ehemals selbständig war, ein kleines Haus auf Kredit gekauft hat, wie es alle machen und nun die Raten an die Bank nicht mehr zahlen kann. Das Haus strahlt auf den ersten Blick den Charme der guten Jahre aus. Doch jede notwendige Reparatur bleibt vorerst aus. Und so geht es vielen Menschen mit ihren Häusern in diesem Land.

 

Eines Tages erleidet der Mann einen massiven Leistenbruch und geht in die Klinik. Weil aber die sogenannte Krise sämtliche Bereiche des Landes trifft, sagt man ihm hier, er käme auf eine Warteliste und man würde sich bei ihm melden, wenn er mit seiner Operation an der Reihe sei. In etwa neun Monaten!

 

Bis dahin solle er sich, wenn der Darm durch die Bruchpforte tritt, flach hinlegen und den Darm selbst zurückschieben.

 

Er könne aber auch einfach 900 Euro auf den Tisch legen und würde gleich morgen operiert. Die Krise teilt das Land in diejenigen, die auf der Warteliste stehen bis sie an der Reihe sind oder sterben und die anderen, die dafür sorgen, dass es diese Warteliste überhaupt gibt.

 

Und tatsächlich, nach etwa neun Monaten bekommt er seinen OP-Termin mitgeteilt. Ohne Voruntersuchung und mit ausschließlich lokaler Betäubung (!), ohne Anästhesisten, ohne Krankenschwester, schneidet man ihm den Bauch auf und die Betäubung lässt schon nach, noch bevor man die Bauchdecke wieder geschlossen hat. Dann lässt man ihn drei Stunden warten, bis man ihm mitteilt, dass er nun wieder nach Hause gehen darf. Er bleibt nicht wenigstens eine Nacht zur Beobachtung, es fährt ihn auch keiner nach Hause. Falls er Schmerztabletten benötigt, muss er die natürlich selbst bezahlen, wenn gerade welche vorrätig sind.

 

Man verabschiedet ihn mit den Worten, es wäre anders gelaufen, wenn er die 900 Euro auf den Tisch gelegt hätte.

      

 

Hat dieser Beitrag ein leichtes Ende? Vielleicht liegt es in der Hoffnung, dass die Griechen und auch alle anderen Europäer, die alle irgendwann und auf ihre Art und Weise von der Krise betroffen sein werden, ihren Stolz und ihre Menschlichkeit behalten. Dass die Mehrheit nicht den rechten oder neoliberalen Lagern auf den Leim geht, die sich momentan wie ein Geschwür überall in Europa ausbreiten.

 

In der Hoffnung, dass sich Solidarität und Miteinander gegen Abschottung und eine Geiz-ist-geil-Mentalität durchsetzen.

Und was einem jeden dabei hilft, das muss er selbst herausfinden. Uns hilft das Reisen um neben allem rationalen Verständnis auch eine Beziehung zu diesen "Fremden" aufzubauen. Zu fühlen, dass uns nichts als ein bisschen Glück oder Pech unterscheidet.

 

 

 

Nach einem kurzen Gewitterguss bricht die Sonne wieder durch die Wolkendecke. Unsere vier Hunde liegen ausgestreckt auf dem Bett oder dem Boden. Draußen bewacht uns immer noch eine kleine Gang aus Straßenhunden.

 

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